Hast du auch manchmal dieses leise Unbehagen, wenn der “KI-Zaubertrick” vorbei ist? Ich beobachte das oft in meinen Seminaren und Workshops: Eine Gruppe wirft einer KI ein komplexes Problem vor die Füße. Sekunden später spuckt der Bildschirm die plausible Lösung aus. “Erledigt!”, rufen alle (lachende Gesichter). Die Erleichterung ist greifbar. Aber in diesem Moment der Stille danach frage ich oft: “Habt ihrdas Problem wirklich gelöst oder seid ihr diesem nur ausgewichen?”
Lass uns ein Gedankenspiel wagen. Angenommen, du trainierst für den Marathon deines Lebens. Du willst fit werden, deine Grenzen spüren. Aber bei jedem Trainingstermin lässt du dich von einem E-Bike ziehen. Du kommst im Ziel an, ohne Frage. Die Stoppuhr zeigt eine Bestzeit. Du hast nicht geschwitzt. Aber wenn du vom Rad steigst… was ist dann mit deinen Muskeln passiert? Haben sie gelernt dich über lange Zeit zu tragen, oder haben sie gelernt sich tragen zu lassen?
Dieser Text ist deine Einladung, vom Passagiersitz auf den Fahrersitz zu wechseln. Wir schauen uns konkret an, wie du die KI nutzen kannst, ohne dass dein geistiger Bizeps dabei verkümmert.

Die süße Falle der schnellen Antwort
Ich nenne das die konvergente Nutzung. Es ist verführerisch einfach: Frage rein, Antwort raus. Das fühlt sich nach Produktivität an, ist aber oft nur eine Illusion von Geschwindigkeit. Ganz zu schweigen, dass das Ergebnis abhängig von Modell Basiswissen, Anfrage und Zufall nicht stimmen muss (aka Halluzination – graues kleines Dreieck im diagramm).
Die Wissenschaft nennt den Preis, den wir dafür zahlen, „Cognitive Debt“… also kognitive Schulden. Wenn wir die KI als Abkürzung nehmen, passiert in unserem Kopf nämlich erschreckend wenig. Neurowissenschaftler können messen, wie die sogenannte Alpha-Konnektivität sinkt. Salopp gesagt: Die Lichter in den oberen Etagen unseres Denkens werden gedimmt und wir werden zu Zuschauern im eigenen Kopf.
Die Zahl, die mich dabei nachts wachhält, ist 83%. In einer aktuellen Studie* konnten 83% der Teilnehmer, die einen Text von der KI schreiben ließen, kurz darauf nicht einmal mehr Schlüsselsätze daraus wiedererkennen geschweige denn rezitieren. Das Wissen steht zwar auf dem Papier, aber in unserem Kopf herrscht gähnende Leere. Wir haben das Ergebnis „gekauft“, aber nicht verstanden.
Vom Lieferdienst zum Sparringspartner
Aber wozu ist die Technologie dann gut, wenn nicht zum Abkürzen? Hier lade ich dich ein, die Perspektive zu drehen: Hin zur divergenten Nutzung von KI Systemen.
Betrachte die KI nicht als den Praktikanten, der dir die Arbeit abnimmt, sondern als den Sparringspartner, der dich schwitzen lässt. Du startest nicht mit der Frage nach der Lösung, sondern mit deiner eigenen, unfertigen Idee. Du nutzt die KI, um das Thema aufzufächern, um Gegenargumente zu finden, um deine blinden Flecken auszuleuchten.
Ja, das ist anstrengender. Es ist kein Fast Food. Es ist kognitive Arbeit. Aber genau diese Reibung verhindert den geistigen Muskelschwund.
Das Risiko der „Metakognitiven Faulheit“
Viele Unternehmen feiern gerade das linke, schnelle Dreieck meines Modells: „Wir sind 50% schneller!“ Wenn ich das höre, antworte ich oft mit einer unbequemen Wahrheit: „Ihr erkauft euch dieses Tempo mit Kompetenzverlust und Abhängigkeit.“
Fachleute sprechen von „Metacognitive Laziness“. Wenn wir das Denken auslagern (Cognitive Offloading), verlernen wir schleichend die Fähigkeit zu beurteilen, ob das Ergebnis überhaupt gut ist. Wenn in deinem Team niemand mehr weiß, warum eine Strategie funktioniert, weil niemand mehr den Prozess durchdacht hat, wird dein Unternehmen abhängig und erpressbar. Die Innovationskraft des Unternehmens ist gefiltert und abhängig von den Fähigkeiten des KI Systems.
Sidenote: Dieses “Phänomen” ist nicht neu, denkt man daran, dass es z.B. früher Menschen gab, die Flugzeuge immer manuell gefologen sind. Technologie beeinflusst uns Menschen und macht bestimmte “Skills” überflüssig. Deshalb müssen Pilotinnen regelmäßig ins Flug-Training… damit das Gehirn nicht vergisst, wie es sich anfühlt selber zu fliegen.

Die Lösung: Der „Critical Loop“
Also, wie kommen wir also zurück in die echten Innovation und Co-Creation? Wie behalten wir die Hand am Steuer? Die Forschung zeigt uns einen faszinierenden (einfachen) Weg, den ich den Critical Loop nenne. Teilnehmer einer Studie, die zuerst selbst dachten („Brain-only“) und dann die KI hinzuzogen, zeigten eine bemerkenswert hohe neuronale Vernetzung.
Hier ist mein Vorschlag für deinen neuen Workflow, das rechte Dreieck:
- Erst Strukturieren (Du): Starte immer bei dir. Lege das Fundament. Deine Notizen, deine ungeschliffenen Gedanken, Konzept Outlines, Skribbles, deine Struktur. Das ist der Moment, in dem deine Synapsen feuern.
- Dann Generieren (KI): Jetzt öffnest du die Tür. Lass die KI deinen Beitrag divergieren. Hol dir neue Perspektiven, lass sie deine Thesen rösten, lass sie Chaos stiften. (mögliche Anweisungen für eine LLM könnten z.B. sein: „Kritisiere meine Struktur aus der Perspektive eines [Zielgruppe]“ , „Welche drei Gegenargumente habe ich in meinen Notizen übersehen?“, „Erstelle 5 radikal unterschiedliche Varianten dieses Absatzes.“… und ganz viele mehr)
- Dann Integrieren (Du): Du holst die Ergebnisse zurück. Du bewertest, verwirfst, baust ein. Du bist der Kurator.
Durchlaufe diesen Loop nicht nur einmal. Starte erneut bei dir, lass die KI das Feld weiten, und komm dann wieder zu dir zurück, um zu konsolidieren.
Und was nun?
Jedes Mal, wenn du das Eingabefeld öffnest, stehst du an einer Weggabelung. Wählst du die bequeme Abkürzung, die dich langfristig abhängig machen könnte? Oder nutzt du die Technologie, um tiefer zu graben, als du es alleine könntest?
Willst du nur schnell ans Ziel kommen oder willst du verstehen, wo du bist?
Quellen
*Paper von Nataliya Kosmyna MIT Media Lab (und mehr Menschen)…
Your Brain on ChatGPT: Accumulation of Cognitive Debt when Using an AI Assistant for Essay Writing Task https://arxiv.org/abs/2506.08872