Alle reden ständig von Digitalisierung, aber was genau ist eigentlich Digitalität? Dieser Begriff, der vor allem im deutschen Sprachraum verwendet wird, beschreibt etwas fundamental anderes, als die bloße technische Umwandlung analoger Prozesse. Lass uns gemeinsam erkunden, warum diese Unterscheidung so wichtig ist.
Der entscheidende Unterschied
Wenn eine Bibliothek all ihre Bücher scannt und diese online verfügbar macht… das ist Digitalisierung. Ein technischer Prozess mit Anfang und Ende hat und messbar und abschließbar ist.
Digitalität hingegen beschreibt die Welt, in der wir bereits leben: Eine Realität, in der wir ständig über digital vernetzt sind, und z.B. unsere Identitäten durch soziale Medien mitgeformt werden und Algorithmen entscheiden, welche Informationen wir sehen. Digitalität ist nichts, das man implementiert, es ist ein Zustand, in dem man sich befindet.
Der grammatische Hinweis
Die deutsche Sprache macht den Unterschied elegant deutlich:
- Digitalisierung (Endung “-ung”) = ein Prozess, eine Handlung
- Digitalität (Endung “-tät”) = ein Zustand, eine Qualität
Die drei Säulen der Digitalität nach Felix Stalder
Der Schweizer Kulturwissenschaftler Felix Stalder hat mit seinem Werk “Kultur der Digitalität” (2016) den Begriff maßgeblich geprägt. Er identifiziert drei zentrale Merkmale:
1. Referentialität
Kulturelle Bedeutung entsteht heute durch Bezugnahme auf existierendes Material. Denke an Memes, Remixes, Mashups in denen wirNeues schaffen, indem wir Bestehende Informationen / Daten neu kombinieren. Die Quellen bleiben erkennbar, aber der freie Umgang mit den Ergebnissen wird zur dominanten Form kultureller (re)Produktion.
2. Gemeinschaftlichkeit
Gemeinschaften bilden und lösen sich heute fluide und niedrigschwellig. Unsere Identität definiert sich nicht mehr primär durch stabile Institutionen wie Familie oder Kirche, sondern durch unsere Positionierung in digitalen Netzwerken. Du bist, wen du folgst und wer dir folgt.
3. Algorithmizität
Algorithmen sortieren, filtern und strukturieren die überwältigende Informationsflut. KIs oder Social Media sind z.B. nicht nur technische Tools, sondern prägen fundamental, wie wir die Welt wahrnehmen. Deine Instagram-Timeline, deine Spotify-Vorschläge, deine Google-Suchergebnisse, all dieses wird algorithmisch kuratiert.
Digitalität im Alltag: Konkrete Beispiele
In der Bildung
Digitalisierung bedeutet: Tablets kaufen, WLAN installieren, PDFs statt Schulbücher und Papier.
Digitalität bedeutet hier: Lernen wird als vernetzte Wissensproduktion neu gedacht. Schüler:innen werden zu Ko-Produzenten, die Materialien finden, remixen und teilen. Die Grenzen zwischen Schulzeit und Freizeit, zwischen formalem und informellem Lernen verschwimmen. Es geht nicht um die Geräte, sondern um eine fundamentale pädagogische Neukonzeption von Lernen.
In den sozialen Medien
Digitalisierung: 4 Milliarden Menschen haben Social-Media-Accounts.
Digitalität: Identitätsbildung geschieht durch Positionierung in Netzwerken. Die Selbstdarstellung wird zur einer ständigen Arbeit. Algorithmen analysieren unser verhalten und strukturieren, was wir glauben und für wahr halten. Und so verschwimmt die Grenze zwischen privat und öffentlich.
Bedauerlicherweise sind diese genutzten System so gut optimiert, dass diese neurobiologische Veränderungen beim Nutzen hervorrufen: Denn Likes aktivieren unser Belohnungszentrum scheinbar wie eine Droge. (Dazu ein andermal mehr)
In der Wirtschaft
Digitalisierung: ERP-Systeme, E-Commerce, automatisierte Fertigung.
Digitalität: Plattformökonomie strukturiert wirtschaftliche Beziehungen neu denn z.B. Uber besitzt keine Autos, Airbnb keine Hotels, dennoch koordinieren diese Netzwerke wie wir leben. Ebenso produzieren Nutzer:innen Inhalte und Plattformen nutzen diese Daten und monetarisieren damit unsere Aufmerksamkeit. Und seit Corona haben wir gelernt, dass Remote Work möglich ist und schnell zur Norm werden kann und dass dieses Rad zurückzudrehen auf Widerstände stoßen kann.
Warum ist diese Unterscheidung wichtig?
Die Trennung zwischen Digitalisierung und Digitalität erlaubt uns:
- Kritische Distanz zur Technologie zu wahren
- Kulturelle Fragen nicht auf technische Lösungen zu reduzieren
- Gestaltungsmacht zu erkennen, denn technischer Wandel determiniert nicht automatisch kulturelle Ergebnisse
- Raum für demokratische Gestaltung statt passiver Anpassung zu schaffen
Die postdigitale Perspektive
Einige Theoretiker argumentieren bereits, dass wir in einer “postdigitalen” Ära leben. Die Unterscheidung zwischen online und offline, zwischen virtuell und real, ist obsolet geworden. Der Cyberspace ist ins reale Leben “gestülpt”. Und genau das beschreibt Digitalität.
Nicolas Negroponte sagte schon prophetisch 1998: “Die digitale Revolution ist vorbei.” Nicht weil sie gescheitert wäre, sondern weil das Digitale zur unsichtbaren, ubiquitären Infrastruktur unseres Lebens geworden ist.
Wie leben, lernen und gestalten wir in der Digitalität?”
Digitalität ist keine Zukunftsvision, sondern unsere Lebenswirklichkeit. Die Frage ist nicht mehr wie wir digitalisieren sondern wie wir unser Leben in diese Digitatlität gemeinsam leben möchten.