Warum fühlt sich Recht haben so gut an?

Wir müssen reden… Über diesen einen Moment, den du sicher kennst. Du sitzt in einem Meeting oder am Abendbrottisch, und jemand wirft eine Idee in den Raum. Dein Verstand springt sofort an. Wie ein gut geölter Motor rattert er los, findet drei Gegenargumente, zwei logische Fehlschlüsse und eine viel bessere Lösung. Du fühlst dich stark. Du fühlst dich klug. Aber was, wenn genau dieses Gefühl dein größtes Hindernis ist?

Wir wuchsen fast alle mit dem Glauben auf, dass Intelligenz wie ein voller Tank ist und je mehr du hast, desto weiter kommst du. Wer schnell denkt, gewinnt. Wer gut argumentiert, führt.

Doch Edward de Bono, ein Mann, der das menschliche Denken wie kaum ein anderer sezierte, hält uns hier einen Spiegel vor, der ein ziemlich unbequemes Bild zeigt. Er sagt uns, dass unsere geschätzte Intelligenz oft gar kein Werkzeug ist, sondern auch eine Falle für Kreativität und Innovation sein kann.

In diesem Beitrag lade ich dich ein, ein Konzept zu erkunden, das sich erst einmal komisch anfühlen könnten. Es kratzen ein wenig am Ego, hat dennoch das Potenzial, deinen Kopf von einem staubigen Archiv für Fakten in ein lebendiges Labor für Möglichkeiten und Innovation zu verwandeln.

Die Intelligenzfalle: Wenn dein Motor zu gut läuft

Kennst du Menschen, die jede noch so absurde Position brillant verteidigen können? Vielleicht ertappst du dich selbst dabei. Nenne wir es die Intelligenzfalle. Edward De Bono beobachtete etwas Faszinierendes: Hochintelligente Menschen sind oft miserable Denker. Warum? Weil sie ihren Intellekt nicht nutzen, um die Wahrheit zu suchen, sondern um ihre erste, intuitive Meinung zu verteidigen.

Stell dir deinen Verstand wie einen Anwalt vor. Ein hochintelligenter Anwalt kann jeden Fall gewinnen, egal ob der Mandant schuldig ist oder nicht. Je besser du argumentieren kannst, desto weniger spürst du die Notwendigkeit, deine eigene Position zu hinterfragen. Du mauerst dich in deiner eigenen Brillanz ein. Du hast Recht, aber du lernst nichts mehr dazu.

Ein wahrer Denker definiert sich nicht über „Ich habe Recht“, sondern über den Prozess „Ich erkunde“. Es ist ein Wechsel vom Ego-Status zur Neugier.

Denken, um das Denken zu beenden

Das klingt paradox, fast schon frech. Unser Gehirn ist faul. Es ist ein Energiesparwunder. De Bono vergleicht es gern mit einer Schüssel Wackelpudding. Wenn du einen Löffel warmes Wasser darauf gibst, bildet sich eine kleine Rinne. Das nächste Wasser fließt automatisch in diese Rinne. Nach ein paar Malen hast du einen tiefen Graben.

Genau das tut dein Gehirn. Es ist gut darin, Muster zu suchen und zu finden. Sobald es ein Muster erkannt hat – zack – schaltet es auf Autopilot. Der einzige Zweck des Denkens ist für unser biologisches System oft nur, so schnell wie möglich aufzuhören zu denken und in eine Routine zu verfallen. Das sichert das Überleben, spart Glukose, tötet aber jede Innovation. Das Gute ist: Wir können uns bewusst entscheiden, aus diesen bequemen Trampelpfaden auszubrechen, auch wenn sich das (erst einmal) unnatürlich anfühlt.

Provokations Oprtation: Quadratische Räder rollen doch

Unsere Logik funktioniert meist wie ein Türsteher: „Passt das hier in mein Weltbild rein? Ist das wahr? Nein? Dann raus damit.“ Das nennt de Bono Felsenlogik (oder Konvergentes Denken). Sie ist hart, fest und urteilt sofort. Innovation braucht Wasserlogik (Divergentes Denken). Wasser fragt nicht „Ist das wahr?“, sondern „Wohin fließt das?“.

Um das zu üben, gab uns de Bono das Wort „PO“ (Provocative Operations). Eine Art geistiges „Trotzdem“. Nehmen wir an, wir fordern: „Autos sollen quadratische Räder haben.“ Die Realist:in in deinem Kopf schreit sofort: „Unsinn!“ Die Wasserlogik fragt: „Okay, wohin würde uns das führen? Quadratische Räder? Die würden rumpeln. Aber sie hätten mehr Auflagefläche. Mehr Haftung. Wie verhindern wir das Rumpeln? Vielleicht, indem sich die Achse anpasst…” Und plötzlich sind wir bei der Idee der intelligenten, adaptiven Federung. Wir nutzen die „falsche“ Idee nicht als Ziel, sondern als Trittstein. Alles was wir dazu benötigen, ist der bewusste Moment diese PO als Spiel zu verstehen und unser Urteil auszusetzen, um Bewegung in unseren Kopf zu bringen.

Die fünf Provokations-Kategorien

Edward de Bono hat fünf PO-Kategorien entwickelt, die es lohnt beim nächsten Innovations-Camp auszupacken. Sprachlich vorweg setzt er an eine solchen Denksportaufgabe “PO”, um allen anderen im Raum zu signalisieren: “Ahh, es ist eine annahme über die Welt und ich kann meine Türsteher:in erst einmal nach Hause schicken. Ich darf meine Kreativität auf die Reise schicken”.

Lasst es uns hier einmal mit folgendem Thema freudvoll kreativ durchspielen:

“PO: WhatsApp blockiert automatisch jede Nachricht, die einen Streit auslösen könnte.” (Mögliches Movement: Eine KI als diplomatischer Filter? Ein “Wut-Puffer”?)

Als Denk-Tools sind diese fünf PO-Kategorien wundervoll und im richtigen Moment eingesetzt sehr wirkungsvoll. Ich persönlich nutze auch noch eine weitere Kategorie “Paradoxe (Widerspruch)” (Wie kann X und gleichzeitig Y sein).

Erfahrungsbericht: In meinen Kreativ und Innovationsworkshops oder in Coachings werden wirklich unglaublich tiefe Erkenntnisse auf basis von POs ausgearbeitet. Mensch die selbst von sich behaupten, dass sie keine Phantasie haben, finden tiefe Einblicke und neue Lösungen.

Der Beweis als Mangel an Phantasie

Das ist der Punkt, der mich persönlich am meisten getroffen hat. Wir glauben oft, wir hätten etwas bewiesen wenn wir “Recht haben”. De Bono sagt trocken: Wahrscheinlich fehlt dir nur die Phantasie für eine bessere Erklärung. Er nennt das den „Dorf-Venus-Effekt“.

Unsere Gewissheit ist vielleicht oft nur ein Mangel an Alternativen. Selbst die besten wissenschaftlichen Theorien sind oft nur die besten, die uns bisher eingefallen sind. Solche Fragen oder auch der Zufall können helfen neue Wege einzuschlagen. Das ist keine Einladung zur Beliebigkeit, sondern zur Demut. Es hält den Raum offen und erlaubt dir, auch bei scheinbar klaren Fakten noch neugierig zu bleiben und neues zu entdecken.

Was bedeutet das für dich morgen früh?

Ich hoffe nicht, dass du dich weniger freust, wenn du sofort eine Antwort parat hast. Vielleicht genießt du ja das Unbehagen, wenn jemand eine absurde Idee äußert, und anstatt sie abzubügeln öffnest du den Raum für Ideen… bevor die Realität den Raum wieder schließt. Innovation ist keine Gabe, die man hat oder nicht. Es ist ein Handwerk. Und wie bei jedem Handwerk kann man es lernen. Manchmal legt man die liebgewonnenen Werkzeuge beiseitele, um etwas Neues zu erschaffen.

Eine kleine Übung für den Alltag

Nimm dir für das nächste Meeting oder das nächste schwierige Gespräch folgende Haltung vor: „Ich werde heute versuchen, die Position des anderen so brillant und überzeugend in meinem eigenen Kopf zu verteidigen, als wäre es meine eigene, noch bevor ich antworte.“

Was passiert mit deinem Widerstand, wenn du der beste Anwalt der Gegenseite wirst?