Monstalyse #1: Welche Relevanz hat Frankenstein für uns heute?

Wovor hast du eigentlich wirklich Angst, wenn du an Künstliche Intelligenz denkst?

Ist es die Maschine, die ein Bewusstsein entwickelt? Oder ist es eher das Gefühl, dass da draußen etwas gebaut wird, das uns verdammt ähnlich sieht, aber in einen Zerrspiegel blickt?

In diesem Text beschreibe ich die Idee, das die wahre Gefahr der Künstlichen Intelligenz möglicherweise nicht in einer böswilligeit einer autonomen Maschine liegt, sondern in der Hybris der Schöpfer und der Gesellschaft, die Verantwortung verdrängen. Wir füttern Algorithmen mit unseren eigenen menschlichen Unzulänglichkeiten und befinden uns in einem chaotischen globalen Wettlauf, dem gemeinsame ethische Spielregeln fehlen. Wo ist also das Monster?

Wir greifen nach alten Narrativen, wenn das Neue über uns herreinbricht. Mary Shelleys Frankenstein liegt da reflexartig ganz oben im Regal. Wir sehen die Nähte, die Blitze, das Ungeheuer. Aber ich habe das Gefühl, wir starren auf die falsche Seite der Bühne. Was, wenn diese Geschichte gar keine Warnung vor dem Monster ist, sondern ein Spiegel für uns, die Schöpfer (und Nutznießer)?

Lass uns dieses alte Bild einmal entstauben. Denn der wahre Horror bei Shelley war nie die Kreatur. Der Horror war Viktor Frankenstein selbst. Ein Mann, der seine Schöpfung im Moment ihrer Geburt aus purem Ekel verstieß.

Wenn wir also verstehen wollen, was da gerade auf uns zurollt, müssen wir den Blick von den Servern abwenden. Schauen wir auf uns. Auf die Schöpfer. Und vor allem auf das riesige, unsichtbare Getriebe, das sie antreibt.

Der Schöpfer im Glaskasten

Siehst du ihn vor dir? Viktor Frankenstein, der fiebrige Bastler in seiner Dachkammer, getrieben von Hybris und dem Wunsch, gottgleich verehrt zu werden. Das war persönliche Besessenheit.

Aber wer hält heute das Skalpell? Die Dachkammer ist verschwunden. An ihre Stelle sind gläserne Konzernzentralen getreten. Die Schöpfer sind keine einsamen Genies mehr, sondern ganze Bataillone von Wissenschaftlern, Entwicklern, dirigiert von Quartalszahlen und dem unbarmherzigen Takt des Marktes.

Die Besessenheit ist nicht verschwunden, sie ist umgezogen. Sie ist vom Individuum ins System gewandert. Damals baute Viktor als Solopreneur blindlings drauf los. Heute nennen wir das “Marktdominanz”. In den Powerpoints und Pressemitteilungen stehen schöne Worte wie “Alignment”, “Sicherheit”, “Besseres Leben” vor allem “für alle”. Aber sind das nicht oft nur Beruhigungspillen?

Wenn Handeln aus Angst das Rennen um ein mächtiges System gegen die Konkurrenz zu verlieren getrieben ist und größer ist als die Angst vor den Konsequenzen, dann könnte Verantwortung zur Fußnote werden. Wir alle werden zu unfreiwilligen Beta-Testern in einem Experiment, dessen Ausgang niemand kennt.

Das Baumaterial aus dem digitalen Friedhof

Viktor plünderte Gräber. Er nähte Totes zusammen. Das gruselt uns.

Aber schau wir einmal genau hin: Woraus bauen wir unsere “Intelligenz”? Das Material der heutigen KI ist das destillierte Internet. Es ist der gigantische digitale Fußabdruck unserer Zivilisation. Und wenn wir ganz ehrlich in den Spiegel schauen: Dieser Haufen ist kaum reiner als Viktors Leichenteile.

Unsere KI lernt aus unseren Foren, unseren sozialen Medien, unseren Nachrichten. Sie atmet unsere Vorurteile, unseren Hass, unsere Halbwahrheiten. Die Entwickler versuchen nun hektisch, wie Viktor damals, die hässlichen Stellen zu übertünchen. Dieses wird “Bias-Filter” genannt. Aber das ändert nichts an der DNA des Materials. Die Geister, die wir in die Maschine füttern, sind wir selbst: im Guten wie im Schlechten.

Die Dressur der Leere

Hier bricht unser Vergleich mit Shelleys Monster Frankenstein jedoch. Es war eine tragische Figur. Es beobachtete Menschen, las Philosophen, sehnte sich nach Liebe und Zugehörigkeit. Doch eigentlich wurde diese “Menschrekonstruktur” erst zum “Dämon”, weil ihm das Herz gebrochen wurde.

Bauen wir Wesen mit Sehnsucht? Wohl kaum. Eine AGI (Allgemeine Künstliche Intelligenz) liest keinen Plutarch, um Tugend zu lernen. Wir trainieren sie wie einen Hund im Zirkus. “Reinforcement Learning” ist im Grunde ein digitales System aus Zuckerbrot und Peitsche. Das Ziel ist kein moralisches Bewusstsein, sondern eine effiziente, funktionierende Gewinnmaximierung. Eine KI “fühlt” keine Werte; sie simuliert sie, solange die Zielfunktion es verlangt.

Das Monster wollte eine Seele. Die AGI ist bisher dazu programmiert das nächste Token vorhersagen. Und genau diese emotionale Leere macht sie vielleicht für uns alle gefährlicher als jeden rachsüchtigen Dämon.

Das globale Tauziehen um das Lenkrad

Am Ende von Shelleys Roman steht die persönliche Tragödie. Viktor zahlt für sein Versagen mit dem Leben. Die Verantwortung war greifbar.

Aber wer würde heute dafür zahlen? In unserem komplexen System verflüchtigt sich Verantwortung wie Nebel. Wenn die KI entgleist beibt die Frage: wer war es? Der Coder? Der CEO? Der Algorithmus? Unsere Gesellschaft ist meisterhaft darin, den Zeigefinger ins Leere zeigen zu lassen und um Zweifelsfall kommt die Allgemeinheit dafür auf.

Und hier müssen wir die Landkarte neu zeichnen. Wir haben es nicht mit einem verrückten Professor zu tun, sondern mit einem globalen Trilemma. Stell dir drei riesige tektonische Platten vor, die aneinander reiben:

  1. Der Wilde Westen (USA): Hier drückt man das Gaspedal durchs Bodenblech. “Move fast and break things.” Der Markt soll es regeln, Ethik wird oft erst nach dem Launch diskutiert. Geschwindigkeit und Gewinnen ist die einzige Währung, die zählt.
  2. Der Regulator (Europa): Hier versucht man verzweifelt, Leitplanken in den Boden zu rammen, während die Autos noch vorbeirasen. Mit Gesetzen wie dem AI Act will Europa den modernen Prometheus fesseln, bevor er das Feuer stiehlt. Es ist der Versuch, Prinzipien über Profite zu stellen.
  3. Der Stratege (China): Hier sehen wir ein Paradox. Nach innen herrscht eiserne Kontrolle und Zensur und KI als Werkzeug der Stabilität. Nach außen aber füttert man den globalen Wettbewerb, um zu dominieren und zu irritieren. Der Staat sitzt nicht nur am Steuer, er baut die Straße.

Wir haben also ein Auto mit drei Rennställen und vielen Fahrern die sich um das Lenkrad streiten. Einer will rasen, einer will bremsen, und einer will die Route komplett neu bestimmen.

Der wahre Horror ist vielleicht gar nicht die AGI, die “böse” wird. Der wahre Horror ist dieses Chaos. Ein Wettlauf ohne gemeinsame Spielregeln, angetrieben von einem System, das Wachstum über Weisheit stellt.

Frankensteins Monster brauchte Liebe, um gut zu sein. Unsere Systeme brauchen klare Ziele und Grenzen. Doch solange wir uns nicht einig sind, wer diese Ziele definiert, bleiben wir Geiseln unserer eigenen Schöpfung.

Und nun?

Ich als Systemischer Coach stelle gerne unkonventionelle Fragen die zu einer neuen Perspektive anregen sollen…

Somit die Frage, was würde passieren wen wir morgen alle KIs abschalten, und weltweit den Stecker ziehen würden? Wofor würdest du dich dann fürchten?